
Interview zu brachenübergreifenden Chancen und Herausforderungen der Kreislaufwirtschaft: Von Lebensmittel- bis Bauindustrie
Kreislaufwirtschaft hat viele Facetten. Gleichzeitig stehen die Branchen vor den gleichen Herausforderungen, wenn es um den grundsätzlichen Aufbau neuer, zirkulärer Lieferketten geht. Über diese Schnittstelle haben wir mit Alberto Cerri, Projektleiter Kreislaufwirtschaft bei öbu, und Karin Friedli, stellvertretende Geschäftsleiterin bei Circunis, gesprochen. Beide kennen die Vor- und Nachteile der Kreislaufwirtschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Alberto Cerri leitet die öbu-Initiative «Wiederverwendung in der Bauindustrie», die sich mit verschiedensten Akteur:innen der Bauindustrie dafür einsetzt, zirkuläre Lieferketten für Re-Use Bauteile aufzubauen. Karin Friedli arbeitet bei Circunis daran, überproduzierte Lebensmittel und Rohstoffe, die sonst im Abfall landen würden, im Produktionskreislauf zu halten.
Sowohl öbu, als auch Circunis, sind beim Aufbau ihrer Projekte auf Partnerschaften angewiesen. Welche Rolle spielt die Kollaboration in der Kreislaufwirtschaft?
Karin Friedli: Unser Projekt mit dem B2B-Marktplatz als Kern entstand aus der Erkenntnis, dass bisher nicht vorhandene Kreisläufe nur durch Kooperation möglich sind. Die Unternehmen sind sehr stark mit dem Tagesgeschäft und mit Herausforderungen wie Fachkräftemangel oder Berichterstattung beschäftigt – alleine ist es daher schwierig, die Grundstruktur für zirkuläre Lieferketten aufzubauen. Die Zusammenarbeit mit Partnern ist also essentiell, um noch nicht vorhandene Kreisläufe zu etablieren.
Alberto Cerri: Heute ist die lineare Lieferkette effizienter als die Wiederverwendung von Baustoffen. In Zukunft werden wir jedoch auf die Aufbereitung und Wiederverwendung von Bauteilen angewiesen sein. Deshalb ist es wichtig, schon heute Möglichkeiten aufzuzeigen und sich zu vernetzen, auszutauschen und zu kollaborieren. Da es im Tagesgeschäft oft um Rentabilität geht, hat unsere Initiative ein grosses Interesse daran, Kooperationspartner:innen den “Business Case” aufzuzeigen, um sie zum Mitmachen zu bewegen.
Stichwort “Business Case” - Fallen euch hier Praxisbeispiele ein?
Karin Friedli: Für unseren Prototypen 2022 haben wir rund 20 Kontakte nach ihrem Lebensmittelüberschuss befragt und die Daten anonymisiert veröffentlicht. Wir wollten aufzeigen, welche Art von Überschuss vorhanden ist. Bald gab es Anfragen für die gelisteten Warenposten. So konnten wir schon im Vorprojekt ganze 30 Tonnen Lebensmittel vermitteln und gleichzeitig unsere Annahme validieren, dass es eine Motivation gibt, diese Waren im Kreislauf zu halten. In der Praxis sind verschiedene Faktoren relevant für den Business Case, zum Beispiel Lager- und Entsorgungskosten, strategische Initiativen, im Einkauf auch der steigende Preis- und Margendruck in bestimmten Segmenten.
Alberto Cerri: Mit unserer Initiative “Wiederverwendung in der Bauindustrie” fördern wir in enger Zusammenarbeit mit den öbu Mitgliedern Kästli AG, Wetter AG und Stephan AG die Wiederverwendung von Stahlträgern. Darüber hinaus verfolgen wir das Ziel, die Wiederverwendung von Fenstern zu fördern und kooperieren zu diesem Zweck mit Re-Win.
Auch die Lagerung und Logistik ist im Bereich zirkulärer Lieferketten ein grosses Thema. Seht ihr hier eine Herausforderung?
Karin Friedli: Ja, die Logistik ist wichtig und muss für eine funktionierende Lieferkette zwingend aufgebaut werden. Im Lebensmittelhandel ist dieser Bereich gut etabliert. Auch Lagerplätze sind in der Lebensmittellieferkette meist vorhanden. Die logistische Herausforderung ist deshalb etwas kleiner, als wir ursprünglich angenommen haben. Sie betrifft primär bestimmte Betriebssegmente, für die sich gute kooperative Lösungen finden.
Alberto Cerri: Im Bausektor spielt insbesondere der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Wird ein Gebäude abgerissen, finden die Bauteile nicht immer direkt am nächsten Tag eine:n Abnehmer:in. Andererseits können laufende Neubauprojekte mit ihren streng getakteten Zeitplänen auch nicht auf die Verfügbarkeit eines gebrauchten Re-Use-Bauteils warten. Diese Umstände machen Lagerplätze für die Zwischenlagerung unabdingbar.
Prozessoptimierung ist also wichtig. Inwiefern helfen euch dabei neue Technologien?
Karin Friedli: Wir sind jetzt ein knappes Jahr am Markt und lernen immer noch sehr viel über unsere Kundinnen und Kunden und ihre Bedürfnisse. Dabei erweisen sich Daten und technologische Prozesse als entscheidend, um zu erkennen, welche Bedürfnisse real sind und wie einfach und nutzer:innenfreundlich unser Angebot sein muss. Aktuell ergänzen wir mehr automatisierte Benachrichtigungen, zudem ermöglichen wir seit kurzem, Waren auch explizit zur Spende für Hilfsorganisationen freizugeben. Damit führen wir die Kaskade fort, die der Bund im Aktionsplan gegen Lebensmittelverschwendung vorsieht.
Alberto Cerri: Gezielte Informationen sind auch für uns wichtig. Die Akteur:innen wollen bei jedem einzelnen Bauteil wissen, woher es stammt, wann es verfügbar ist und welche Qualität es hat. Hier steht die Bauindustrie - unabhängig von der Kreislaufwirtschaft - noch ganz am Anfang. Unsere Idee ist, dass wir neben den technischen Daten zu jedem Bauteil auch Informationen über CO2-Werte abrufen können. Gemeinsam mit GS1 arbeiten wir an der Entwicklung eines digitalen Produktpasses für Re-Use Stahl.
Was braucht es eurer Meinung nach, damit Initiativen in der Kreislaufwirtschaft erfolgreich sind?
Karin Friedli: Theoretisch ist Kreislaufwirtschaft einfach. Die Praxis zeigt jedoch, dass eine funktionierende, zirkuläre Lieferkette ohne gezielte Koordination und moderierten Austausch kaum realistisch ist. Sichtbarkeit und Koordination sollen die richtigen Personen miteinander ins Gespräch bringen. Wie kann es sein, dass mein Zulieferer Überschussprodukte hat, die ich gebrauchen kann und von denen ich nichts weiss? An diesem Informationsfluss müssen wir arbeiten - und zwar in allen Branchen.
Alberto Cerri: Ich bin durchaus einverstanden, Koordination und Austausch sind zentral. Person A und Person B in der Lieferkette müssen am Informations- und Wissensaustausch arbeiten. Durch kleinere Pilotprojekte lässt sich das Potenzial der Kreislaufwirtschaft aufzeigen und die Glaubwürdigkeit solcher Möglichkeiten erhöhen. Natürlich muss auch die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Kreislaufwirtschaft ist keine “Rocket Science”, es braucht jedoch Ideen, die den Wandel vorantreiben. Vor allem braucht es aber das “nötige Kleingeld”, um diese Ideen in realistische Projekte zu verwandeln. Letztendlich ist es auch eine Frage der Zeit. Solche Initiativen brauchen Geduld, um akzeptiert und etabliert zu werden.
Über Circunis:
Mehr als 40 % aller Lebensmittel weltweit werden überproduziert und landen in der Tonne, eine gigantische Ressourcenverschwendung. Leider ist es oft günstiger, die Waren zu entsorgen, als sie zu verwerten. Das muss sich ändern, findet Circunis und baut mit Unterstützung des Migros-Pionierfonds und der Seedling Foundation einen B2B-Marktplatz auf, über den Lebensmittelüberschuss gehandelt werden kann. So etabliert Circunis einen proaktiven Umgang mit Lebensmittelüberschuss und trägt zu einer effektiven und nachhaltigen Lebensmittelwirtschaft bei. Das Ziel ist, dass Überschussmanagment in der Lebensmittelwirtschaft zum Standard wird.
Über die öbu-Initiative «Wiederverwendung in der Bauindustrie»:
Diese öbu-Initiative setzt sich für eine funktionierende Wertschöpfungskette von Re-Use Baumaterialien ein. Durch den gezielten Fokus auf Stahlprofile konnten konkrete Hindernisse für deren Wiederverwendung identifiziert und in mehreren CBI-Booster-Projekten eliminiert werden. Im Mittelpunkt standen dabei Lösungen für zentrale Herausforderungen wie Qualitätssicherung, Oberflächenbehandlung und Logistik. Unternehmen und Organisationen haben sich im Rahmen der Initiative zu einer offenen Allianz zusammengeschlossen, die von öbu koordiniert und unterstützt wird. Ziel der Initiative ist es, eine industrielle und zirkuläre Lieferkette für weitere Re-Use-Bauteile (z.B. Holz, Fenster, gesägte Betonblöcke) aufzubauen, die langfristig eine nationale Dimension erreicht und so die Bauwirtschaft nachhaltig transformiert.